Aufopferung Teil 2

16. Nov.. 2020 - Destiny Dev Team

AUSGEBURT DES ZORNS

„Hm.“ Sagira leitet einen Lichtstrang in das Kontrolldeck des Sprungschiffs, während sie durch die schwarze Kapsel taumeln und die funkelnden Sterne in unerreichbarer Ferne verlöschen. „Irgendetwas tut sich da draußen in dem Rauschen …“

„Was meinst du?“, hakt Osiris nach.

„Könnte eine Art Subraumübertragung sein. Warte kurz.“ Sagira justiert den Transponder des Sprungschiffs. „Es stammt von den Kabalen.“

„Woher kommt es?“ Osiris schiebt geistesabwesend einen Sack Zuckermais mit dem Fuß zur Seite und beugt sich vor.

„Von irgendwo außerhalb des Systems. Das Signal ist stark verschlüsselt, aber … ein und derselbe Text wird in Dauerschleife gesendet.“ Ein Name. Caiatl?“

„Wie viele Kabal-Anführer ringen auf Ghauls Grab noch immer um die Vorherrschaft? Sollen sie sich doch gegenseitig in Schutt und Asche legen.“

„Es gehen Antwortsignale von Nessus, dem Riff und der ETZ ein.  Sie ruft die Legion nach Hause … oder, nein … an ihren Busen zurück? Sie verlangt von ihnen, ihre Loyalität unter Beweis zu stellen, indem sie Calus gefangen nehmen, allem Anschein nach gilt die Leviathan jedoch als vermisst.“

„Sie setzen ihre blutige Fehde fort. Wenn Caiatl die Legion aufwiegelt, wird die Vorhut über ihre Pläne Bescheid wissen wollen.“

„Eine der Antworten kommt aus der Nähe von Soriks Schnitt und bietet Caiatl einen Tribut an. Und da ist noch ein anderes Signalrauschen.“

„Diese Nachricht hier“, sagt Osiris und zeigt auf Sagiras Scan-Auswertung auf dem Bildschirm. „Caiatl schickt einen Boten aus, um den Tribut in Empfang zu nehmen.“ 

„Die Bucht. Wir sind nicht allzu weit entfernt“, erwidert Sagira. „Hören wir sie ab oder sprengen wir die Party?“

 „Wir schnappen sie uns nach der Übergabe. Das Kabal-Imperium soll nicht mitbekommen, dass wir ihre Kommunikationskanäle abhören.“

Eine Horde Kabale versammelt sich dicht an dicht in einem primitiven Verschlag aus diversen ausrangierten Drop-Pods. Durch die Risse fällt grünes Licht ins Innere. Auf dem dreckigen blubbernden Matschboden ist ein königsblaues Banner nach Machart der Kabale ausgebreitet. Sagira und ihr Hüter beobachten die Szenerie von einer Gefallenen-Ruine hoch oben über der Schwäre. Den größten Teil des Abends herrscht Stille. Einzige Ausnahme: Sagiras gelegentliche Feststellungen. „Sie hocken immer noch bloß um diesen Felsen herum.“

„Geduld ist eine Tugend, Sagira.“ Osiris richtet den Blick zum Himmel über dem Riff und wartet auf irgendein Zeichen, das die Pläne der Dunkelheit offenbaren könnten. Im Angesicht der Sterne lastet das ganze Gewicht des pechschwarzen Alls auf ihm. Er verliert sich inmitten ihrer Lichtjahre.

Schreie in der Nacht. 

Osiris schreckt auf. Seine Augen öffnen sich und erblicken das neblige Gestöber der Bucht. „Sagira, Bericht.“

„Sie sind immer noch alle da drin. Achtzehn Lebenszeichen. Kein Waffenfeuer. Keiner hat sich auch nur bewegt. Das gefällt mir nicht.“

Ermüdende Stunden vergehen. Dann bricht der Morgen an. Die Kabale liefern sich keine Scharmützel mit den Hohn, keine Metallarbeiter flicken Phalanx-Schilde mit geschmolzener Schlacke, keine Psion-Beobachtungsposten, die Schützenlinien im Auge behalten.

„Es tut sich was!“ Sagira wirft einen Blick über die Kante ihrer Stellung. Die Notluke an der vorderen Kapselkuppel springt explosionsartig auf und schleudert gegen die Kapselhülle. Zehn wacklige Gestalten steigen aus: neun in Blassrot, eine in leuchtendem Blau. Sie verteilen sich über die Bucht.

Osiris reibt sich die Augen. „Endlich.“ Er kann sie durch die Risse erkennen. Die übrigen Kabale bilden einen kreisförmigen Ring und knien eng beieinander. In ihrer Mitte befindet sich eine gewölbte steinerne Erhebung. 

„Was macht der Gesteinsbrocken da?“, fragt er.

„Ist ziemlich stoisch, würde ich sagen.“

„Sagira … Das stinkt zum Himmel.“

„Ich gebe dir nicht gerne Recht, aber ja allerdings.“ Der winzige Geist richtet für einen Moment seine Fernsensoren auf den Gesteinsbrocken aus. „Oh, das ist kein Fels. Es ist die Schar. Biologisch.“

Osiris gleitet auf federndem Licht hinunter. Sagira folgt ihm dichtauf. 

Er springt durch die offene Kapseltür. In jeder seiner Handflächen tanzt eine himmlische Flamme. Acht Kabale sitzen reglos da.
Die Kabale drängen sich um die Erhebung. Ihre massigen Körper bilden ein Bollwerk aus bebendem Fleisch. Seelenfeuer-Geheul bläst durch ihre bombastischen Druckanzüge. Sie sind fixiert – mit hervorquellenden Augen stoßen sie Wutschreie aus. Ihre Brustpanzer sind mit Schar-Seepocken überwuchert. Hände umklammern fest ihre Kehlen. Vor dem Götzenbild liegen hingeworfene Kugelgewehre.

Osiris mischt sich unter sie, ohne dass sie Notiz davon nehmen, und senkt seine Hände. Sagira begibt sich durch den Kreis der Kabale hindurch, um die Erhebung zu scannen.

„Unheimlich. Sie nehmen uns nicht einmal wahr. Wir halten besser die Raketenköpfe bereit.“ Sie wendet sich Osiris zu. „Das ist der lebendigste Fels, den ich je gescannt habe.“ 

Osiris schaut in die Schar-Erhebung. Metallische Flecken schimmern, und er sieht eine lange, leere Straße. Gewunden. Er verspürt den Wunsch, sie mit einem großen Banner zu versehen, damit alle sie sehen können. Ein Leuchtsignal, entfacht durch die Flamme des Phönix. Im aufkommenden Licht der Flamme zeichnet sich eine Terrasse der Klingen ab. Die Terrasse dominiert die Straße; ihr Abgrund an seiner Kehle. Er erhebt die Dämmerklinge, um sich ihnen zu stellen. Dissonanzeruptionen drangsalieren seine Sinne.
 
ICH BIN DER KRIEG, DEN DU BEGEHRST. DIE EWIGE BESTIMMUNG. EIN VERMÄCHTNIS IN BLUT.
 
„Das Ding ist von Seelenfeuer-Adern durchzogen.“ Sagiras Stimme ist für Osiris nichts weiter als ein Windhauch. Sie stupst ihn an.

WENN DU KLINGEN ZIEHST, ZIEHST DU MICH. 

„Hörst du das Flüstern?“ Osiris Worte gleichen einem Lallen.

DU KANNST NICHT WIDERSTEHEN, OHNE MEIN BANNER HERBEIZURUFEN.

„Hörst du etwas?“ Sagira gleitet neben ihn.

UMARME MICH, LICHTTRÄGER, UND SEI EIN GOTT DES TODES.

„Flüstern.“ Sein Verstand vernebelt sich.

Einer der Kabale steht auf und dreht sich zu Osiris um.

„Komm zu dir, sie wachen auf“, sagt Sagira und klappt sich im Angesicht der Gefahr ein.

VERSCHLINGE ODER WERDE VERSCHLUNGEN.

Der Kabal trudelt vorwärts. Osiris setzt eine Woge der Verbrennung frei. Die Feuersbrunst bringt das Innere der Kapsel zum Kochen. Kniende Kabale erwachen aus ihrer Trance und richten sich in der sengenden Atmosphäre auf. Von den verbleibenden sieben fallen zwei sofort einem Hagel himmlischer Feuerblitze zum Opfer. Osiris erdet sich und entfesselt eine Arkus-Kaskade auf die Meute der schwerfälligen Legionäre. Der Blitz windet sich an der Innenseite entlang gegen die magnetische Abschirmung der Kapsel. Er setzt den Ansturm auf sie fort, bis das Druckgel zischt und aus ihren Anzügen hervorquillt. 

Osiris atmet aus. Der Gestank ihrer schwelenden Körper dringt in seine Nase. Die Kulisse wird deutlicher. Horror, Versengung und Kohle.

„Sagira …“


VONEINANDER ABHÄNGIG

„Verrätst du mir, was da gerade los war?“, will Sagira wissen. Sie schwebt über dem Kontrolldeck und steuert das Sprungschiff.

„Ich wünschte, das könnte ich. Ich erinnere mich, dass ich der Spur von Caiatls Boten folgte. Dass ich auf die Kabale traf. An den Nachthimmel. „Dann … Flammen und Zorn. Es kostete mich meine letzte Kraft, diese Gedanken aus meinem Verstand zu verbannen.“ Osiris lässt sich schwer in seinen Sitz fallen. „Eine klare Erinnerung habe ich. Ich spürte das dunkle Geflüster, dem wir hinterherjagen. Wie eine Nadel in meinem Rückenmark. Es muss die Wurzel all dessen sein.“  

Während er ins Grübeln gerät und über seine Vergreisung nachdenkt, klingen alte eiserne Worte aus der Vergangenheit in seinen Ohren.

„Bald wird die Stadt keine Männer wie uns mehr brauchen. Einsame Wölfe, Osiris. Wir sterben aus.“
„Wenn dein Ende naht, sorge dafür, dass es deines Lichts würdig ist.“ 

„Okay“, erwidert Sagira. Ihr Tonfall lässt große Sorge erkennen, die sie jedoch zu verbergen versucht. „Ich habe Scans abgesetzt. Langstrecke, Kurzstrecke … überallhin, wo es eine auffällige Schar-Präsenz gibt. Es kann unmöglich sein, dass sich das Ganze auf das Riff beschränkt.“

„Petra, wie konnten wir so blind sein?“ Osiris denkt nach. „Die Schar breitet sich in der Dunkelheit aus, während Hüter nach Europa strömen. Die Warnung lag zwischen den Zeilen ihrer Worte verborgen, und ich habe sie nicht erkannt.“

„Das reicht, genug rumgejammert. Wir sind früh aktiv geworden. Vielleicht ist das hilfreich.“

„Ich kann die Vorhut nicht mit schwammigen Erinnerungen und Mutmaßungen dazu bewegen, den Blick von Europa abzuwenden. „Sie haben gerade erst angefangen, mich wieder zu akzeptieren und mir wieder zu ertrauen.“

Auf den Monitoren des Schiffs machen sich Resonanzsignale bemerkbar und erregen Osiris‘ Aufmerksamkeit. „Antworten auf deine Scans.“

„Der Mond. Das Signal ist viel stärker als das aus der Gegend um Soriks Schnitt.“

Osiris verlagert sein Gewicht und hebt den Kopf. „Was unser Timing betrifft, könntest du Recht haben. Wir können das beenden, bevor es richtig anfängt. Öffne einen Kanal zu Eris.“

„Hab ich schon versucht. Sie, ähm … na ja, sie antwortet nicht.“

„Dann fliegen wir zu ihr.“

„Oh nein. Erst das hier und dann noch ein Himmelfahrtskommando in den Höllenschlund? Du bist absolut nicht in der Verfassung für sowas. Komm erst mal wieder zu Kräften, dann reden wir weiter.“

Osiris überlegt. Sagira hat Recht. Er leidet unter Schlafmangel und ist erschöpft. „Dann kehr um.“

„Osiris, ich habe bereits alles, was wir wissen, an Petra und die Vorhut berichtet. Ich bringe uns zur Erde.“

„Womit auch immer wir es hier zu tun haben, es breitet sich in den Eingeweiden des Systems aus. Und jemand in der Bucht kennt sich mit solchen Dingen aus. Ich werde wohl noch fit genug sein, um eine Unterhaltung zu führen, Sagira.“

„Im Turm gibt es zweifellos reichlich Leute, die mindestens genauso hilfreich wären.“

Osiris funkelt sie an. „Ich bin kein invalider Tattergreis!“ Er greift nach dem Steuerknüppel. „Kehr um oder ich mach‘s.“

„Dieser Spider hat besser ein paar Antworten auf Lager“, erwidert Sagira.

„Nach allem, was ich gehört habe, ist das bloß eine Frage der Überzeugungskraft“, antwortet Osiris und folgt einem Eliksni-Geschäftspartner durch die pflaumenfarbenen Vorhänge in Spiders Behausung. Der korpulente Pate der Bucht fläzt lässig vor ihnen herum.

„Willkommen, höchst geschätzter Osiris. Wenngleich du meine Gemächer bislang noch nicht beehrt hast, so eilt dir dein Ruf doch voraus.“ Spider verschränkt seine acht Finger und seine Worte werden von stakkatoartigem gasgeschwängertem Aufstoßen unterbrochen. „Der Lesestoff, den du mir geschickt hast … sehr interessant, aber keinesfalls mehr aktuell.“

Spider kichert. „Ich habe schon meine Topleute auf diese … Kryptolithen angesetzt. Dennoch würde ich niemals … wie sagt man noch? Ah ja, einem geschenkten Gaul ins Maul schauen.“

Seine Partner huschen in den Ecken des Raumes umher. In atemberaubendem Tempo wechselt Frachtgut die Hände. Osiris beobachtet die Abläufe. Ein hochdekorierter Partner nähert sich Spider und stellt sich wartend neben ihn.

„Was gibt‘s, Arrha? Besser, du hast einen guten Grund, in die Audienz unseres Gastes hereinzuplatzen.

Arrha wirft Osiris einen kurzen Blick zu und sagt dann hektisch etwas in Eliksni. Spider lässt eine fleischige Faust niederkrachen. „Dann treib es auf!“

Arrha eilt davon und Spider wendet sich wieder Osiris zu. „Ich bitte um Verzeihung. Geschäftliche Komplikationen in diesen …“, er gestikuliert fahrig herum, „… schwierigen Zeiten.“ Er unterdrückt ein Husten und klammert sich an seinen Äther-Rebreather.

„Die Kabale sind nicht die Einzigen, die in Schwierigkeiten stecken, wie?“, merkt Sagira an und postiert sich vor Osiris. „Du weißt, dass ich Eliksni spreche, ja?“

Sie spielt Mitschnitte der Kabal-Notsignale und der Kommunikation von Caiatls Spähern ab, die die Sperrung der Lager befehlen. Und sie präsentiert Bildmaterial, das Metzeleien, Gräber und leere Kabal-Festungen zeigt. „Wenn es sie so hart trifft, müssen deine Partner … wie sagt man noch? Sterben wie die Fliegen.“

„Der weise Osiris und sein brillantes kleines Licht“, raunt Spider.

„Sagira“, korrigiert ihn das Duo.

„Natürlich. Ich sehe keinen Grund, warum wir nicht eine … für beide Seiten gewinnbringende Partnerschaft eingehen könnten.“

Osiris tritt vor. „Was können wir für dich tun, Spider, Herrscher der Bucht?“

Spider suhlt sich in dieser Anrede. „Ich weiß, dass die Kryptolithen von der Schar stammen. Ich weiß, dass die hiesige Brut Oryx‘ Banner verbrennt. Und ich weiß, dass das Skelett seines Wurms, desjenigen in den Ringen des Saturns, erwacht ist.“ Spider vollführt mit seinen vier Armen ein Achselzucken. „Meine Befugnisse enden selbstredend an den Ufern der Bucht … deine hingegen nicht.“


FÜRCHTE DICH NICHT

Osiris spießt den Kopf einer Hexe auf einem verwitterten Stachelspeer auf, umgeben von einem mit frischem Blut getränkten Schar-Siegel. Die Konsole des Grabschiffs springt an und akzeptiert seinen Zehnt. 

Caydes alte Teleportzone war zwar nicht mehr in Betrieb, dafür war jedoch der massive Riss, den der Aufprall der Dantalion-Exodus VI hinterlassen hatte, weiterhin geöffnet. Sich Zutritt zu verschaffen, war trotz der in den Hallen umherkriechenden frisch geschlüpften Leibeigenen nicht schwierig. Sie waren jung und unerfahren, und Osiris hatte seine Fähigkeit, unsichtbar zu bleiben, im Laufe seines fast ein Jahrhundert währenden Streifzugs durch den Immerforst perfektionieren können.

Die Systeme des Grabschiffs waren lebendige Erinnerungen – Chroniken und Hymnen, die Geschichten erzählen. Ein Rattenschwanz verblassender Gedanken, die von fehlgeschlagenen Verbindungen und sterbenden Interpretationen geplagt werden, während der irreparabel beschädigte Akka einen langsamen endgültigen Tod erleidet. Trotz allem findet sich hier Wissen, das sich zusammenzutragen lohnt. Osiris weist Sagira an, Datenbestände für die Kommandozentrale der Vorhut aus der Konsole herunterzuladen.

„Da hast du dir die absolut Widerwärtigste ausgesucht. Die fasse ich nicht an. Diktier mir die Sachen.“

Osiris grinst spöttisch und packt sich den Kopf. Er navigiert durch die Schar-Erzählung von Oryx‘ Tod. Ausgelöst durch interne Machtkämpfe brach die Schar auseinander. Danach folgt eine Erzählung über Savathûn: verbannt, als Ketzerin gebrandmarkt und zum Scheiterhaufen verurteilt. Viele der Schar schlossen sich ihr an, als Oryx fiel. Viele eben dieser Brutlinien wurden abtrünnig, als die Dunkelheit über Sol hereinbrach, und Savathûn musste untertauchen. Noch immer wird sie von den Bluthunden gejagt. Über ihren Verfolger findet sich hier keine Geschichte, denn diese muss erst noch in Blut geschrieben werden. Der Zelebrant des Krieges schickt sich an, Crotas verlorene Findelkinder vor den finsteren Plänen der Hexenkönigin zu bewahren. Um Einigkeit zu erzielen. Um einen Schlussstrich zu ziehen. Um Ruhm zu erlangen. Der Mond wird nach ihrer Vorstellung neugestaltet. Alle Zehnten für Xivu Arath. Alle Zehnten für den schwarzen Rand ihrer singenden Klinge.

ICH BIN DAS GETÖSE DES RISSES. ICH BIN DER HEROLD DES FRIEDENS. MEIN BANNER IST DIR WOHLBEKANNT. 

„Xivu Arath“, sagt Osiris. Unter Zwang ausgesprochene Worte. Als smaragdfarbener Rauch aus den Öffnungen des Hexenkopfes zu strömen beginnt, lassen seine Hände von ihm ab.

Osiris sinkt auf die Knie. „Das muss das Echo sein, hinter dem wir her sind. Ein Omen ihrer Stimme, das durch die Dunkelheit hallt und Krieg verkündet.“

„Eine Kriegsgöttin der Schar. Das ist übel“, entfährt es Sagira.

„Die dritte Schwester. Sie hat es jetzt auf uns abgesehen, und ihr Champion versucht, den Platz von Crotas verbleibenden Töchtern auf dem Mond einzunehmen. Da müssen wir hin.“

In die Kluft auf dem Mond. Sie folgen der Spur der Signale in den Unermesslichen Abgrund hinab. Durch die Albträume so vieler. 

Er bleibt gefühlte Stunden davor stehen. Das Große Eckige Ding – der Abgrund der Nacht, die in seinem Hinterkopf tobt.  

„Sprachlos?“, neckt ihn Sagira. „Vielleicht sind sie ja gar nicht so übel.“ Ihr Grinsen ist kaum überzeugend. 

Sie gehen weiter. 

Osiris wischt seidene Spinnweben über dem Schatten der Pyramide des Mondes zur Seite. Kohlenschalen erleuchten eine Synode der Hexen und Hexenmeister tief im Innern der Kluft. Sie stehen allesamt in einer Linie zu einem monolithischen Siegel von Xivu Arath auf der Spitze eines mit Klingen geschmückten Kryptolithen: ihr Wille, projiziert aus einer weit entfernten, unsichtbaren kosmischen Vertiefung. Unterhalb ihres Antlitzes – ein monströser Ritter, umrahmt von Wandteppichen mit verkohlten Brandstellen.

„Da ist es“, flüstert Osiris.

„Und auch gleich der gesamte scharlachrote Hof“, krächzt Sagiras Stimme.

„Crotas verbliebene Kinder und ihre Brut können auf einen einzigen Schlag zerstört werden.“

„Wieso denkst du immer gleich an Selbstmord? Wir können hier nicht rausteleportieren, und sie werden dich nicht einfach bloß töten. Sie werden dir dein Licht rausreißen, Osiris.“

„Sie sind alle hier, Sagira. An ein und demselben Ort.“

„Du bist mehr wert als ein Haufen Schar-Adel. Warte auf Verstärkung. Lass mich wieder raufgehen und Hilfe holen.“

„Nein. Wir beenden das jetzt. Wir stoppen sie genau hier.“ Osiris sieht zu der Versammlung hinunter. „Es ist entschieden.“

„Du kannst das nicht einfach so entscheiden!“

Osiris wendet sich Sagira zu. „Hol du Hilfe, aber ich kann nicht auf die Vorhut warten. Wir sehen uns dann mit Verstärkung.“
„Wenn du gehst, gehe ich mit dir.“ Sie klappt sich zur Sicherheit unter seiner Rüstung ein. Es ist entschieden. Gemeinsam können sie der Schar den Krieg erklären.

Solarschwingen entflammen auf Osiris‘ Rücken. In jeder Hand schwingt er eine Dämmerklinge. Das Grauen seines Infernos versprengt die Schar in alle Richtungen. Voshyr und ihre beiden Töchter Yishra und Ayrix schicken sich an, sich dem Phönix entgegenzustellen. Noch bevor sie ihre ersten Beschwörungsformeln beenden können, zerfallen sie bereits zu Asche. Er zeichnet eine apokalyptische Szene. Fünfzehn Adlige der Brut verkohlen, bevor sie sich auch nur verteidigen können.

EIN LACHEN WIE KLIRRENDE SCHWERTER.

Osiris gleitet durch die Luft, mit dunkler Macht verstärkte Dolche zischen an ihm vorbei. Goldene Echos lösen sich aus seinem Körper, metzeln die fliehende Schar-Brut nieder und ersticken jede Gegenwehr im Keim. Kinox, die letzte Tochter von Crota, huscht durch die Spalten zwischen den Felsen, während ihr Sohn Ulg‘Urin und seine Kohorte niederer Ritter die Schilde zu ihrer Verteidigung erheben. Osiris löscht eine Klinge in seiner Handfläche, erzeugt eine Leere-Singularität und schleudert ihnen eine Nova-Bombe entgegen, die sie verschlingt. Mit seiner anderen Klinge in der Hand setzt er zum Sinkflug an. Er rammt sie in den Boden, woraufhin ein von einer Phalanx vergoldeter Echos umringter Brunnen des Glanzes hervorbricht. 

Panisch kreischend rufen die Adligen der Schar ihre Leibeigenen zum Angriff. Feuer- und Arkus-Blitze durchzucken sie, während Osiris durch die Leere von einem Echo zum nächsten blitzt. Ihr Vorstoß kollabiert. Er steigt über ihre sengenden Überreste und richtet die Feuersbrunst nun auf ihre Meister. 

Osiris weidet sich an dem Gemetzel. Xivu Araths Siegel saugt seinen Gluteifer und den Tod der Adligen auf.
EIN LACHEN WIE SCHREIENDE ANGST.

Ihr Antlitz zeigt sich hoffnungsvoll. Der Zelebrant wartet am Fuß des Kryptolithen von Xivu Arath, unversehrt.

Osiris‘ Echos kehren in ihn zurück. „STELL DICH MIR!“, ruft er und tritt vor.

Xivu Araths Antlitz sendet eine donnernde Schockwelle durch die Kluft. Sie reißt Osiris‘ Brunnen mit sich und schleudert ihn über den steinernen Boden. Er kracht mit dem Rücken gegen die Klippe hinter ihm.

„Was ist das?“ Die Frage folgt dem Rhythmus der Schockwellen. Er kämpft vergeblich gegen eine unsichtbare Kraft an.

DU VERBRENNST GABEN; ICH NEHME SIE ENTGEGEN.

Xivu Araths Wille hält dem Druck seines Lichts stand. Versiegelt die Flammen in seinem Fleisch. Fixiert seinen Körper mit lähmenden Nägeln an dem Stein. Ihr Abbild verzerrt zu einer ihn umgebenden konkaven Leinwandprojektion, in dessen Zentrum sich der Zelebrant befindet. Schatten fallen über ihn her und überwinden die Grenzen seiner Macht.

Osiris konzentriert seine Gedanken auf den Funken in seinem Innersten. Flammen quellen von innen heraus. Zahllose vergoldete Echos brechen aus ihm hervor, fordern Xivus Griff heraus, maträtieren die Schwachstellen. Die Sonne lacht, um den Schatten zurückzutreiben. Er ergreift eine Gelegenheit beim Schopf, reißt eine Hand frei und entfesselt die Spannung des Chaos. Der Arkus-Strahl durchdringt Xivus Siegel. Seelenfeuer-Bruchstücke schießen hervor, in Xivu Araths Projektion zeigen sich Risse.

Unbeeindruckt gibt sie sich nicht geschlagen.

WIDERSTEHE MIR, LICHTTRÄGER.
Ihr Wille ergreift Besitz von ihm, stärker als zuvor. 

Der Zelebrant tritt vor. Ein riesiger Spalter baumelt schwerelos an seiner Hand. Die Bestie schnitzt zu beiden Seiten von Osiris eine Rune in den Stein, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Er nickt ihm zu und wendet sich dann dem Siegel zu. 

„Alle Zehnten für Xivu Arath. Kriegsherrscherin. Ewiglich.“ Es klingt zugleich sanft, rauh und hörig. 

Die Runen entzünden sich. 

„Osiris.“ Sagiras Stimme dringt an sein Ohr. „Einer von uns muss hier raus und sie warnen.“

„Es tut mir leid, Sagira … Flieh …“ Seine Worte klingen matt und müde von der Anstrengung.

Der Zelebrant treibt sein Schwert in den Klippenfels oberhalb von Osiris‘ Kopf. Ein Neon-Leuchtfeuer bricht aus dem Kryptolithen hervor.

„Stirb schön, Osiris.“ Der Zelebrant verbeugt sich und verschwindet in den Tiefen des Mondes außer Sichtweite.

Lichtstränge durchströmen seine Haut, besudeln sich mit Blut und schlängeln sich an die über ihm fixierte Klinge, als wäre sie ein Wickeldornspeer.

Sagira‘s Stimme ist nur noch ein Flüstern. „Ich lasse nicht zu, dass sie dich kriegen.“

DEINE STÄRKE LEBT DURCH MICH WEITER.

„Gib dem Heiligen … meine privaten Dateien“, haucht Osiris und schließt seine Augen. Er sieht eine Million Permutationen von sich selbst. Jeder Pfad: ein Leben im Schnelldurchlauf. Er versucht aus ihnen zu erfassen, was er nur kann. Nicht genug zum Genießen, aber genug, um im nostalgischen Dunst unsterblich zu werden. In einem Fall ist er ein flammender Krieger, der die Schrecken der längsten Nächte zurückdrängt. In einem anderen eine wachende Gargyle hoch über dem Immerforst. Ein grauhaariger Alter, der strebsame Schüler beaufsichtigt. 

In so vielen ist er tot.

Doch einer macht Osiris glücklich. Er findet sich in einer Zeit fernab des Kampfes wieder. Er trifft den Heiligen – ein Traum von herzlicher Heiterkeit. Frieden in seinem Streben. Mit dem Heiligen gibt es eine Zukunft, die hätte genügen können. 

So viele ungelebte Augenblicke, verloren inmitten der Momente der Notwendigkeit des Handelns. Er wünschte, Sagira wäre nicht hier, um ihn sterben zu sehen. Seine treue Gefährtin. Sein wegweisendes Sternenlicht. Seine Hoffnung, seine Menschlichkeit. „Sagira. In so vielen Leben, die wir hatten … warst du immer mein besseres Ich.“

Sein Licht wird schwächer.

„Osiris, warum hörst du nur nie auf mich?“ Sie entfaltet sich direkt vor ihm.

„Was meinst d–“ 

„Sei still! Hör auf meine Worte!“ Licht erhellt ihre Iris. „Es liegt noch Großes vor dir. Verliere in der Dunkelheit nicht die Hoffnung.“ Sie strahlt.

Osiris haucht das Wort nur, als könnte er es damit aufhalten: „Nein.“ Er würde es mit der Zeit verstehen. Sie hatte es gesehen.

Gleißendes Licht bricht aus Sagiras Kern hervor und sie zerbricht in Stücke. Eine Welle des Lichts flutet die Kluft. Ihr Opfer beseitigt jede Spur von Xivu Araths Präsenz. Das Siegel: ausgelöscht. Der Kryptolith, der ihre Projektion ermöglichte: zerstört.  

Osiris holt Luft. Allein.

Der Schutz von Sagiras Licht währt über Tage hinweg beharrlich im Schatten der Pyramide.
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