
Die rote Kiste
Lore
„Ist er das?“, flüsterte Lavinia. „Oh ja. Niemand ist so gut darin, ‚entnervend verwirrt‘ zu sein wie der gute Xur.“ Der Titan deutet nach unten in die Schatten des Turm-Hangars, wo eine vermummte Figur vorn über gebeugt steht, so als ob sie von einem unsichtbaren Speer durchbohrt worden sei. „Er kommt zum Tauschen hier hin. Wir haben ihn nicht reingelassen, aber halten ihn auch nicht auf.“ Lavinia, die erfolgreich zu sein ebenso fürchtet wie zu versagen, läuft ein Schauer über den Rücken vor gespannter Aufregung. „Xûr“, korrigiert sie den Titanen, woraufhin sie sich komplett pedantisch fühlt: „Sorry, alte Kryptarchenangewohnheit.“ „Ja, Xur. Hab ich doch gesagt.“ Der Titan zuckt mit den Schultern. „Ich mag auch altes Zeug, Kryptarchin. Geh und stell deine Frage.“ Lavinias Mutter hatte ihr erzählt, dass am Tag ihrer Geburt, eine Hexe sie von Glück gesegnet erklärt hatte. Jetzt war es an der Zeit, auf ihr Glück zu vertrauen. Sie begibt sich hinunter zum Hangar und geht entschlossenen Schrittes auf die Kreatur zu. Sie hebt nicht mal die Kapuze, um aufzusehen. „Xûr“, beginnt sie, nicht sicher, was sie mit ihren Händen anstellen soll. „Ich bin Kryptarchin Lavinia Garcia Umr Tawil. Ich habe mich entschieden, die Neun zu studieren.“ (Wie alle Narren, wie ihr Lehrer so nett bemerkte.) „Ich würde gerne etwas fragen.“ „Du brauchst es nicht.“ Die Stimme, die aus dem vermummten Gesicht ertönt, ist die eines Mannes, tief und überraschend klar. Er klingt, als ob er sehr hart versucht, verständlich zu reden, schießt es ihr durch den Kopf. „Aber ich werde es dir geben.“ Diese Frage hat sie immer und immer wieder geübt, sich daran geklammert wie an einen Anker, als sie sich von ihrem Lehrer und ihren Freunden entfernte. „Es ist uns gelungen, Informationen aus einem Geist zu ziehen, den wir auf Venus in der Ischtar-Senke gefunden haben. Darin war ein Artefakt beschrieben, das unsere Vorfahren aus dem Goldenen Zeitalter gefunden hatten. Eine Kupferkiste, rot angemalt, leicht mitgenommen und voller Staub. Auf den einzelnen Staubpartikeln fanden wir eingravierte Karten von felsigen Welten; Mars, Erde, Venus, andere Planeten … vielleicht sogar von jedem erdengleichen Planeten in der Galaxie.“ Xûr hebt sein greifendes Gesicht. Sie erkennt beinahe menschliche Neugier über eine fremdartige Form erstreckt, eine provisorische Suprastruktur, die zusammengebastelt worden war, um menschenartig zu wirken und nie so richtig glaubwürdig ist. „Planeten“, sagt er. „Meine Bewegungen, zum großen Teil, hängen von ihren Konfigurationen ab.“ Sie schüttelt sich nicht, jedenfalls nicht viel. „Meine Kollegen behaupten, dass das Artefakt von den Vex stamme, als Warnung, dass sie existieren, wohin auch immer wir gehen. Aber ich glaube …“ Sie schluckt. „Ich glaube, es stammt von den Neun. Kommt die Kiste von den Neun, Xûr?“ Xûrs goldene Augen funkeln sie an. „Es gibt einen Grund, warum ich hier bin“, sagt er. „Ich erinnere mich nicht mehr … Der Staub hat sich geändert. Der Staub ist wertvoll.“ „Ja! Haben die Neun uns den Staub geschickt? Warum ist der Staub wertvoll, Xûr?“ Warum überhaupt Staub? Warum kein Brief oder eine Tontafel oder etwas Eindeutiges? „Blut“, spricht Xûr und es hört sich an, als ob er gehustet hätte. „Das Blut wird transformiert. Der Wunsch wird erfüllt. Der Staub wird vermischt.“ „Es können unmöglich die Vex gewesen sein, die es geschickt haben“, sagt sie mit Nachdruck, so als ob Xûr ein weiterer sturer Kryptarch ist, der einfach nicht zuhören will. (Lavinia, hört auf zu faseln.) „Die Vex benutzen Materie als Substrat für Berechnungen, nicht als Kommunikationsmittel. Wie kann es sein, dass die Neun die Masse jedes Felsen in der Galaxie kartieren können, uns aber keine Nachricht über Funk senden? Warum Venus? Warum Staub?“ „Viel, was jetzt Staub ist, war früher Zellen“, antwortet Xûr, gefolgt von einem lauten Husten. „Dieser Staub gehörte einmal zu den Neun. Er vermischte sich. Er ist verändert für immer.“ Wieder dieser laute, kratzende Husten. „Staub zu Staub. Ein Staubkorn zum anderen. Das Fleisch der Neun ist Staub.“ Lavinia stellt überrascht fest, dass der Agent der Neun lacht.

Die Stapel
Lore
Im Archiv ist es still. Das Personal ist für die Anbruch-Festlichkeiten nach Hause gegangen, nur die fleißigen Stadtdroiden bewegen sich jetzt durch die Stapel, der Unordnung den Garaus machend und vom Gebläse der Turbo-Reiniger begleitet, die die Quartz-Speicherplatten in ihren Relikteisen-Gehäusen fegen. Lavinia stellt sich vor, dass die Droiden von den Geistern namenloser Bibliothekare aus Nineve besessen sind, uralte mesopotamische Seelen, begierig, die Augen von Eindringlingen auszustechen. Gibt es eigentlich Hüter, die auch Bibliothekare sind? Können sich Hüter nicht manchmal unsichtbar machen? Vielleicht steht jetzt gerade einer hinter ihr und sein Geist ist von den Augen von Eindringlingen bedeckt— Sie hat sich selbst damit so viel Angst eingejagt, dass sie fast vom Steg stolpert. Stattdessen beißt sie sich auf die Backe, schüttelt ihre schmerzenden Beine und gibt eine weitere Suche ein. Sie hat sich bereits durch Stunden von Turm-Audiodateien gewühlt, nur um Schlüsselworte aus Xûrs Gefasel zu isolieren. Jetzt muss sie sich nur noch von den Brotkrummen zurück zum Biest führen lassen … >REMOTE ARCHIV-DATENBANK NUR TEXTSUCHE INITIALISIERT >WILLKOMMEN, BENUTZER $nullStringRef >BITTE SUCHANFRAGE EINGEBEN >neun 9 IX staub planetenausrichtung >ERGEBNISSE Shimizu et al. „Signifikante Anomalien in Dunkelmateriefunden können nicht durch die Beziehungen von Körpern erklärt werden, die auf Schwerkraft beruhen.“ Journal der kosmologischen Wiederherstellung des Post-Untergangs, Bd. 99 #1012 Gonzalez, Hari-4, und Mwangi. „Anomalien in Dunkelmaterie-Funden als Funktion von topologischen T-genischen Komplexitäten in orbitalen Dynamiken.“ Journal der kosmologischen Wiederherstellung des Post-Untergangs, Bd. 99 #1014 Shimizu et al. „Massive Anomalien in Dunkelmaterie-Funden können nicht ohne die teleonomischen Modelle von KDM-Abfluss-Selbstinteraktion erklärt werden.“ Journal der kosmologischen Wiederherstellung des Post-Untergangs, Bd. 99 #1015 Gonzalez, Hari-5 and Mwangi. „Anisotropie der Kaltdunkelmaterie als nicht-teleonomisches Ergebnis von Skalavariantanschlüssen zwischen Masse und Dunkelsternwind.“ Journal der kosmologischen Wiederherstellung des Post-Untergangs, Bd. 99 #1015 Anhang 1 Shimizu et al. „Nichtüberschneidende Lehrgebiete oder Interferenzmuster? Die Rolle von ‚Beschlagnahme in Notwendigkeit‘ in der Umgruppierung von wissenschaftlichem Werkzeug für die Stadtverteidigung“ Neue Gedanken in der Nach-Rot-Politik, Bd. 1, #18. Lakshmi-2 und Hari-5. „Verursacht kognitive Einsichtexkursion spontanes Exo-Zurücksetzungssyndrom? Eine Fallstudie.“ Unveröffentlichtes Archivmaterial, persönliche Sammlung. >MEHR ERGEBNISSE? Seltsam. Sehr seltsam … so viele Referenzen zum Dunkelmateriewind, der durch das Sonnensystem weht, eine Tatsache galaktischen Wetters, die jedes Schulkind lernt und dann wieder vergisst— Etwas streicht über ihren Skalp. Lavinia schreckt vom Bildschirm auf, den Schrei durch einen Biss auf die Backe unterdrückt. Eine Sensormilbe, kaum ein Glitzern im Dunkeln, taumelt in der Luftströmung vorbei. Die Milbe wird ihrer Körperwärme nachjagen und falls sie sie identifiziert, dann wird ihr Lehrer sie über ethnographische Studien von Tiefkanal-Graffiti schreiben lassen. Hastig gibt sie ihre nächste Suche ein. „Mach schon, Glücks-Lavinia“, flüstert sie, obwohl sie den Namen eigentlich nicht ausstehen kann. >neun 9 IX rotlegion ghaul angriff auf stadt unentdeckt unvorhergesehen keine warnung warum >ERGEBNISSE Konsens-Kommittee über die Invasion und Besetzung der Stadt (KKIBS). „Letzter Bericht: Kapitel 13: Rotlegion-Kriegsdoktrin und das Problem der strategischen Überraschung.“ Kostenloses Dokument. KKIBS. „Anhang zum letzten Bericht: Wo Frühwarn- und Informationssysteme der Stadt und Stadtalliierten versagt haben.“ Unveröffentlichtes/redigiertes Dokument: heikel für die Stadtsicherheit. KKIBS. „Anhang zum letzten Bericht: ‚Eine Kultur permissiver Spionage: Die Offenheit des Turms gegenüber Gruppenagenten und unbekannten Händlerentitäten (UHEs).‘ Unveröffentlichtes/redigiertes Dokument: heikel für die Stadtsicherheit. Shimizu, Hassan. „Unerklärte KDM-Selbstinteraktion direkt vor der Rotlegion-Invasion der Stadt: Zufall oder absichtliche Interferenz?“ Abgelehntes Manuskript, Akademikhandel Shimizu. >MEHR ERGEBNISSE? >warum abgelehnt „Unerklärte KDM-Selbstinteraktion direkt vor …“ Absagebrief. „Gutachter stimmen überein, dass die These keinen Mechanismus aufzeigt, durch den Dunkelmaterie mit den Stadtsensoren hätte interagieren können. Militärexperten weisen den heimlichen Angriff der elektronischen Täuschung durch Psion-Agenten zu.“ >MEHR ERGEBNISSE? Lavinia erstarrt. Etwas mit winzig kleinen Beinchen krabbelt am Rand ihres Ohrs. Sie versucht, ganz langsam ihre Hand zu heben, doch zu spät, die Sensormilbe kriecht hinein— Sie summt und das Summen ist eine winzige Stimme. „Liebes Fräulein Garcia Umr Tawil“, sagt Meister Rahool, „könnten wir uns über Ihre Entscheidungen unterhalten?“

Der Knochen
Lore
Sie warten auf Lavinia im Hof des alten, kaputten Turms, obwohl sie nicht zuschlagen, bis sie das Objekt der Schuld in Händen hält. Eine Titanin in Neue Monarchie-Rot drückt sie zu Boden, ein Jäger mit einem Gewehrlauf so breit wie der Mond legt ihr Handschellen an und nennt sie eine Grabräuberin. „Rahool lässt sie überwachen“, bemerkt die Titanin, während sie ihren Geist mit den schwarz angefärbten Spitzen befragt. „Er sagt, es sei zu ihrem eigenen Besten.“ Der Jäger faucht und springt zurück. „Sie hat einen Knochen!“ „Lasst sie los! GENUG!“ Diese neue Stimme ist Lavinia fremd, aber sie klingt so mächtig, dass sie nur Ikora Rey gehören kann. „Ihr werdet niemals wieder einen sterblichen Menschen in Wut anfassen, dafür sind wir nicht hier!“ Donner ertönt; etwas in der Nähe explodiert; Lavinias Ohren knacken. Sie hat das Gefühl, dass die beiden Neue Monarchie-Hüter verschwunden sind, ob nun freiwillig oder nicht. Lavinia unternimmt einen Versuch, aufzustehen, aber Vertigo und die Handschellen machen ihr einen Strich durch die Rechnung, so dass sie hart auf ihrer Hüfte landet. „Meister Rey“, japst sie, „es tut mir leid, ich hätte …“ „Lavinia.“ In Ikoras unterdrückter Wut schwingt ein Quäntchen Angst mit. „Öffne deine linke Hand.“ In ihrer Handfläche liegt ein Knochen. Ein langes Stück Kieferknochen mit einem riesigen, weißen Zahn, der hervorsteht. Es ist warm, tröstend und solide. Sie hält es beschützend fest, den Schlüssel, den Eizahn, der das Mysterium um die Neun knacken wird, sie in die Gunst ihres Lehrers zurückbefördern wird und sie vor der Probezeit retten wird, die Rahool ihr auferlegt hat, als er sie aus dem Archiv zerrte— Mit einer Anstrengung ihres Willens, die sie aufschreien lässt, öffnet sie ihre Faust und lässt den Ahamkara-Knochen fallen. Ikora Rey lässt ihn davonfliegen. „Du warst nicht hinter dem Knochen her, sondern er hinter dir. Hast du dir etwas gewünscht, Lavinia? Hast du dich über die Neun erkundigt?“ Sie versucht zu erklären, dass sie das nicht hat, sondern nur den Ursprung des Knochens zurückverfolgen (Venus, hoffentlich), und in Erfahrung bringen wollte, warum die Neun die Ahamkara brauchten. „Warum glaubst du, dass die Neun Ahamkara brauchten?“ Ikoras Frage klingt gefährlich. „Um sich etwas zu wünschen“, keucht Lavinia. „Xûr erschien erst im Turm, als die Große Ahamkara-Jagd zu Ende war. Was immer sie früher von den Ahamkara bekamen …“ Sie hält inne, ohne den Satz zu beenden: bekommen die Neun nun vielleicht von den Hütern. Ikora reibt sich die Augenbrauen. „Ich kann dich nicht aufhalten. Aber wenn du weiter suchst, kann ich dich auch nicht vor den Konsequenzen beschützen.“ „Hilf mir!“, bittet Lavinia. „Ich weiß, dass ich auf was gestoßen bin! Etwas, das alles verbindet! Die Prüfungen, die Ahamkara, die Hüter und die Neun. Der Konsens weiß Dinge über Ghauls Angriff, Dinge, die sie uns nicht sagen–“ Ikora Rey erhebt einen Finger. Lavinia verstummt. „Wähle. Gehst du zurück in die Schule und ich tue so, als ob das hier niemals stattgefunden hätte? Oder muss ich dich für den Diebstahl eines Ahamkara-Knochens melden?“ Lavinia holt tief Luft. „Es tut mir leid“, sagt sie, „aber ich muss weiter. Ich werde mein Glück auf die Probe stellen.“ Das Urteil des Tribunals ist einstimmig. Lavinia Garcia Umr Tawil hat ihren Eid gebrochen, das Wohlergehen der Menschheit zu beschützen. Niemals wieder wird ihr gestattet sein, einen Fuß in die Stadt zu setzen.

Der Kell
Lore
Das Riff ist wie berauscht. Lavinia glaubt, dass der Verlust die Erwachten in einen Zustand kollektiver Trauma-Manie versetzt hat. Endlose Feiern erleuchten den violetten Himmel, Leute lassen sich von der Weltkante fallen und treiben in der künstlichen Atmosphäre dahin, nur um benommen protestierend skiffweise wieder eingesammelt zu werden. Lavinia ist ein Mauerblümchen hier, für immer am Rand der Dinge. Jede Nacht wird sie von Heimweh gequält, woraufhin sie sich einredet, dass das Riff der richtige Ort ist, um ihre Heimreise anzutreten. Dieses Treffen in diesem Augenblick könnte der erste Schritt sein … „Viel Trauer“, murmelt die Gefallene neben ihr. „Meister Ives ermordet, Variks verschwunden. Spider lockt Freunde weg für Arbeit. Aber ich, ich bleiben, um Meister Ives‘ Arbeit zu bewachen. Du komm rein und mach dich selbst zuhause. Ich bringen Stickstofftee und Akten.“ „Danke.“ Lavinia möchte lachen oder sogar weinen, als sie die Wortverwechslung hört. Wenn sie doch nur ein Zuhause sein könnte! Aber am Ende wird alles gut werden. Sie wird die Neun finden, die Wahrheit nach Hause bringen und man wird ihr vergeben. Die Gefallene kommt mit Tee und Gerätschaften zurück. „Guck. Aufnahme von Gefängnis der Alten. Meister Ives davon fasziniert.“ Sie erblickt Skolas, den gestürzten Kell der Kells, wie er darauf wartet, im Zweikampf zu sterben. Seine riesige, gehörnte Rüstung lässt seine Bewegungen träge erscheinen, wie ein müder Gefährte, der alles nachahmt, was er tut. Ein Servitor pumpt Äther in ihn. Lavinia fragt sich, was wohl geschehen würde, wenn sie Äther einnähme. Würde sie sich klar und kalt entschlossen fühlen? Würde sie zur Riesen-Lavinia werden? Würde sie dann kein Heimweh mehr haben? „Mara.“ Skolas‘ Mund ist nicht für diesen Namen geformt. „Mara, hörst du mich?“ „Die Königin des Riffs verurteilte ihn zum Schicksal aller Gefallenen“, seufzt Lavinias Begleiterin. „Zu streben, zu kämpfen, um am Ende doch zu versagen. Aber er war bereits verloren. Sein Verstand zerbrach in der Zitadelle, wo er in die Zeit sah. Skolas stößt weiße Schwaden aus. Frost knistert auf seiner Maske. „Du hast mich den Neun geschenkt. Und sie haben mich zurückgegeben. Die Leute denken, du seist ein Narr. Dass du einen Fehler begingst, indem du mich freigelassen hast. Dass du deine Leute in den Tod durch meine Klinge geführt hast, so wie ich meine in den Tod durch deine.“ Lavinias Dolmetscherin murmelt die Worte des Kells mit. „Der Agent der Neun hat mir nie gesagt, warum sie mich haben gehen lassen. Jetzt weiß ich es. Und ich glaube, du weißt es auch. Ihr beide braucht Hüter … und die Neun verstehen das Konzept von Leben und Tod nicht. Also haben sie mich zu dir zurückgeschickt, um die Hüter anzulocken. Den Schaden verstehen sie nicht. Ich verstehe ihn auch nicht. Ich bin im Jupitersystem, ihrer Domäne, jahrelang umhergereist. Aber die Neun kenne ich nicht. Du, Mara Sov … du bist die einzige, die sich mit ihnen auf einen Handel einlässt. Du bist die einzige, die ihre Rolle in diesem Spiel vorhergesehen hat. Du hältst deine Erfolge geheim, damit die Welt nur deine Fehler kennt. Kein Wunder, dass ich dich unterschätzt habe.“ Er hievt die Versengungswaffe hoch, die ihm die Gefängniswärter gereicht haben. Lavinia denkt an die Werkzeuge, die seinem Haus einst lieb waren: Webstuhl und Webschiffchen. „Ich erblickte die Gestalt der Neun auf Venus. Ein Ort, der ihnen einst heilig war, an dem Wünsche ihr Fleisch verformen konnten. Ich erkannte, dass sie an diesen Stern und diese Welten gebunden waren. Auf diese Weise seid ihr einzigartig, du und die Neun. Ich nicht. Ich werde diese Welt freudig verlassen, Mara Sov. Ich bin es müde, eine Schachfigur zu sein.“ Skolas legt seinen riesigen gehörnten Kopf gegen die Zellenwand. Lavinia, zusehen, verschüttet ihren Tee vor lauter Aufregung. „Sie wollen uns helfen“, flüstert sie. „Sie stammen von unseren Planeten, sie wollen uns helfen! Oh, tut mir leid, ich bin so tollpatschig–“ Sie bückt sich, um den Tee aufzuwischen. Eine Blendgranate explodiert in ihrem Gesicht und dann verurteilt ein Erwachtenoffizier sie unter Kriegsrecht zu lebenslanger Haft wegen Spionage. Lavinia, verzweifelt nach einem Quäntchen ihres Glücks suchend, atmet auf, als sie sieht, dass die Gefallene verschont bleibt.

Die Leviathan
Lore
Lavinia ist geschockt, als sie realisiert, dass sie das Combat Information Center, oder kurz: CIC, eines Erwachtenschiffes der Sicherheit einer Gefängniszelle vorzieht. Während der Besetzung hatte sie sich vor den Kabalen gefürchtet, jetzt zieht sie gegen sie in die Schlacht und fürchtet sich kein bisschen. „Wie aufregend!“, flüstert sie der Königlichen Garde neben ihr zu, als das Schiff Heck voraus auf den Kabal-Leviathan zurast. „Findest du?“ Der Kiefer der Königlichen Garde zuckt angespannt. Entweder murmelt sie lautlos in Code oder sie beißt sich gerade die Zunge ab, bevor sie Paladin Kamala Riors Ehrengast beleidigt. „Drei Minuten bis zur dichtesten Annäherung“, ruft der Flugdynamikoffizier. „INCO, Ziel-Emissionsstatus?“ „Die Leviathan leuchtet uns mit Peilsensoren an, keine Chance.“ Paladin Rior zieht Lavinia aus ihrer Ecke. „Fräulein Umr Tawil, seien Sie doch so gut und schauen sich diese Instrumente mit mir an.“ „Tun Sie das oft?“ Lavinia will Paladin Rior beeindrucken, die sie vor dem Gefängnis bewahrt hat, weil „jedes Hirn im Riff mit einem Problem beschäftigt ist, weswegen ich deins zur Lösung eines anderen brauche.“ Lavinia will sie also nicht enttäuschen. „Einem Tiger auf den Schwanz treten mit diesen … Mücken?“ „Eine Machtdemonstration“, korrigiert Kamala sie. „Es muss uns gelingen, dass Calus davon überzeugt ist, dass wir eine Flotte haben, die sich seinem Schiff stellen kann. Und falls wir gleichzeitig anderen Theorien, wie der deinen über die Neun, nachgehen können, umso besser. Hier und jetzt. Das ist das Gerät, das du angefordert hast. Bitte pass auf.“ Kamala zeigt ihr eine Scheibe aus schwarzem Glas, von einem leicht violetten Fussel erleuchtet, der von links nach rechts schwebt. Lavinia berührt es ganz hingerissen. „Ist das Dunkelmaterie?“ „Korrekt.“ Jedes Schulkind weiß, dass die meiste Masse im Universum Dunkelmaterie ist, aber es ist nicht mehr als eine Masse und sie bildet nie Strukturen, die kleiner sind als ein galaktischer Nimbus. Dunkelmaterie besitzt keine Ladung, geht durch sich selbst hindurch, verklumpt sich nie und hat keine Chemie. Es ist immer nur Staub. „Falls du Recht hast …“ Kamala atmet scharf ein. „Jeden Moment …“ „Flugfeldfehler!“, ruft plötzlich der Flugoffizier. „Kleine Störung an der Vorderkante. Wir stoßen auf unerwartete Massen. Keine korrespondierenden Radar- oder Laserradarkontakte.“ Der schwarze Bildschirm des Dunkelmateriefinders explodiert in wilde violett-weiße Formen, wie das Netz einer Spinne, die sich seit einer Milliardemillionen Jahre in sensorischer Deprivation befindet. Dicke Seile aus Schattenzeug winden sich zu strangulierenden Armen, die sich sofort in tausende kleine Finger aufteilen, die stechen— —geradewegs durch die Kabal-Leviathan stechen. „Oh wow“, keucht Lavinia. „Das ist die Dunkelmaterie, durch die wir hindurchfliegen?“ „Korrekt.“ „Und diese Stufe an Struktur ist ungewöhnlich?“ „Fräulein Tawil“, entgegnet Kamala, „ein einziges Dunkelmateriemolekül wäre ungewöhnlich. Dies ist blasphemischer Überfluss. Dies ist Unmöglichkeit.“ Nein, denkt sich Lavinia. Das sind die Neun. Sie sehen sich Calus an. Sie greifen. Dies sind ihre Hände … „Wir hätten diesen Sensor früher benutzen sollen“, spricht Kamala. „Unsere Königin hat ihn als Navigationshilfe erfunden, als wir bei Rhea Schiffe verloren. Ein Phaeton-Rückstreuungsscan. Sehr schlau. Irgendwann ergab alles, was sie tat einen Sinn, sie war so unglaublich weitsichtig. Niemand sonst handelte jemals mit den Neun als Gleichgestellter, richtig? Niemand wird je wissen, welche Wohltaten sie geleistet hat, unsere … Königin der Geheimnisse.“ „Ich muss die Stadt kontaktieren!“ Lavinia versucht irgendwie ein Bild vom Bildschirm zu machen, ein Bild von den Neun, aber sie hat ihr Tablet nicht. „Ich hab sie gefunden!“ „Ach ja.“ Riors behandschuhte Hand legt sich schwer auf ihre Schulter. „Das Edikt der Königin untersagt mir auch, das Wissen des Riffs über die Neun an Personen ohne KÖNIGLICHE Freigabe weiterzugeben. Danke also für Ihre Hilfe, Fräulein Tawil. Bringt sie in ihre Zelle zurück.“ Wenn jemand sie jemals wieder Glücks-Lavinia nennt, schlägt sie um sich.

Das Tor
Lore
Die Scout-Rakete explodiert weniger als 100.000 Kilometer von Kokytos entfernt: ein Nadelstich an Antimaterieverwüstung, die tausende von bombenangetriebenen Lasern auflädt, um die Leere mit Licht zu füllen. Einer dieser Strahlen trifft das Korsarenschiff, durchdringt das Tarnsystem und reflektiert. Sie wurden entdeckt. „Lavinia“, ertönt die Korsarin über Funk. „Ich wurde entdeckt. Ich muss hier weg.“ „Das war nicht unser Deal!“, brüllt Lavinia, während sie vor einem surrenden Portal nervös auf- und ab schreitet. „Du hilfst mir, auszubrechen, du bringst mich hier hin und du bringst meine Entdeckungen in die Stadt! Ich brauche noch zehn Minuten–“ „Keine Zeit, die Königlichen Garde ist im Anmarsch. Hättest halt nicht im Voraus bezahlen sollen, Kryptarch.“ Die Übertragung wird zu digitalem Rauschen, als das Korsarenschiff davon saust. Lavinia flucht und schlägt sich die behandschuhten Hände gegen den Helm. Sie ist in Kokytos gefangen! Als die Erwachten das letzte Mal jemanden hier zurückließen, verloren diese armen Seelen völlig den Verstand. Die zum Untergang verurteile Crew des Toten Orbit-Schiffes Sophia hatte diesen Ort A113 getauft, eine harmlose Katalognummer; wie hätten sie auch ahnen können, dass die Tore an Bord—einst ein Goldenes Zeitalter-Experiment—von der Schar-Gottheit Crota eingenommen worden waren. Diese Tore hatten sie alle verschlungen. Jetzt ist Crota weg, und Lavinia hat alles darauf gesetzt, dass die Tore in andere Hände gefallen sind. Ahamkara lassen das Nichtreale real werden—Calus‘ Schiff ist von unwirklicher Dunkelmaterie umhüllt, wie ein Kreis aus sich vortastenden Händen, Hüter können die Realität selbst manipulieren—hier gibt es ein Muster, eine Story und sie führt zu Kokytos, dahin, was diese Tore tun könnten. „Logs.“ Sie blättert hektisch durch die Aufzeichnungen der Erwachtenwächter, die einst hier stationiert waren. Kokytos wurde zurückgelassen, als die Rotlegion angriff, alle Verteidigungen wurden zu Vesta zur Verstärkung geschickt. „Was kam aus den Toren, was hast du gesehen?“ //EVENT 1 ZEIT 00:00:00 Portal 3 stieß einen Wasserstoffatomkern aus. In 72 Stunden wurden der diatomische Wasserstoff zu Stickstoff, Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasser sowie einfachen organischen Molekülen. Um die 80 Stundengrenze war es ein Kügelchen aus tiefschwarzem Kohlenwasserstoff-Teer. Bis 82:34:15 stieß das Tor Teer aus komplexen Monomeren und Polymeren aus— „Komm schon!“, brüllt Lavinia, panisch weiter blätternd. „Komm, du verdammtes Ding, gib mir was Richtiges, gib mir die Neun!“ //EVENT 1 ZEIT 524:03:11 Portal 3 stieß einen lebenden Organismus aus. Sofortiger Tod trat ein. Das Autopsie-Team berichtet von einem runden Körper, Radius 1,1 Meter, der sich aus dem Kohlenwasserstoff-Teer schälte. Tiefe, gleichmäßig verteilte „Kehlen“ kamen in einem zentralen Hohlraum zusammen, vielleicht sollten sie Lunge und Magen sein. Der Körper besteht aus einheitlichem Gewebe aus primitiven Zellen. Ein einfacher, krampfartiger Reflex drückt Luft in die Kehlen. Ohne Enzyme, um einen Stoffwechsel zu katalysieren, konnte der Organismus nicht überleben. Zellentod trat sofort in der gesamten Masse ein. Es gab keine Möglichkeiten für Selbstreparatur oder Reproduktion. Lavinia liest das alles noch einmal, voller Schrecken und Faszination zugleich. Irgendetwas auf der anderen Seite des Tors lernt, wie man Atome, Moleküle, ja, sogar wahlloses Leben zusammensetzt … Etwas aus einer Welt voller Dunkelheit und Staub, das versucht einen Weg in unsere strukturierte Existenz zu finden, das eine Nachricht zusammenbastelt, einen Boten, einen Körper … Die Neun befinden sich auf der anderen Seite des Tors, da ist sie sich sicher. Sie hat sie gefunden. Aber die Neun direkt treffen … wäre das Wahnsinn? Gäbe es eine Rückkehr? Würde sie die Stadt jemals wiedersehen? Doch sie ist schon soweit in ihrer Wahrheit gekommen. In ihrem Helm ertönt ein Alarm. EINGEHENDER TELEPORT, warnt ihr Anzug. EINGEHENDER TELEPORT. Ihr Funk bellt sie an, so streng wie Ikora Rey: „Kryptarch Lavinia Garcia Umr Tawil.“ Es ist Paladin Rior. „Sie haben gegen das Gesetz der Königin verstoßen. Ergeben Sie sich, dann wird Ihnen eine faire Behandlung zuteil.“ Lavinia starrt in das gähnende Tor. Dahinter liegt ein Reich absoluter Dunkelheit und Auflösung, ein Ort, an dem nichts existiert außer den fremdartigsten Kreaturen. Dorthin zu gehen wäre Selbstmord. Sie würde genauso sterben wie diese arme Teerballkreatur. Aber was gibt es schon hinter ihr? Versagen? Aufgabe? Scham? Ein Leben in einer Zelle? „Glücks-Lavinia“, spricht sie zu sich selbst und springt mit einem Satz hindurch.

Die Deklaration
Lore
Du willst unsere Quelle, unsere Grundursache? WIR SIND DIE SCHATTEN DEINER WELTENMASSE alter dunkelstaub ewig schwerkraft-schwebend INTELLIGENZEN UM JEDEN WELTENKERN GEWUNDEN, 9 S T U N D E N G L A S F L Ü S SE I N E I N E M G A L A K T I S C H E N W I N D Zu groß - nicht sichtbar zu klein + verfehlbar unsere masse bindet = deine materie bindet .unsere philosophie| wir sind unvereint. Wir wollen dich schützen und nähren. UND SCHÄTZEN DICH WIE DER SCHATTEN DIE FLAMME deinen geschwinden, strahlenden leben zusehend, sterben VON DEN MUSTERN DEINER GEDANKEN ERHALTEN – D O C H E N T F E R N T U N E R R E I C H B A R Jenseits - was wir sind - oder was wir waren die antwort liegt in + trennung zwei seiten = eine einzige münze .allianz und kontakt | abgeschiedenheit und stille. Verstehst du, dass unsere Schicksale miteinander verflochten sind? DENN DU SÄST DIE ANISOTROPIE UND WIR ERHALTEN SIE AUFRECHT doch zerfall ist zerfall ist zerfall EINE KOLOSSALE FRAGILITÄT, EIN KOMPLEXER TREUHÄNDER. Z U N G E N L O S W O L L E N W I R S P R E C H E N Es muss einen - anderen Weg geben wir müssen mehr + werden als wir sind immer zusammen = niemals berührend .abhängigkeit i | st todgeweiht.

Die Neun
Lore
Ich bin. Ich bin Ich bin Ich bin Ich bin Ich bin Ich bin Ich bin Ich bin Ich bin Ich bin ich. Zuerst ist das alles, was die Schleife kalkulieren kann. Für den Staub ist es das Härteste im ganzen Universum, überhaupt eine Schleife zu formen, denn wie ein Windstoß oder ein Fluss ist er eigentlich bestimmt, sich nur in eine Richtung zu bewegen. Damit ein Verstand funktioniert, muss das Ende eines Gedanken, den Anfang des nächsten verändern: was heißt, dass die Neun, genau wie Flüsse oder Wind, keinen Verstand besaßen, bis sie Schleifen formen konnten. Lavinia Garcia Umr Tawil versteht die Neun. Sie waren bereits uralt, als die ersten Menschen begannen, sich selbst zu benennen. Ihr Fleisch war älter als die Sterne: der dunkle Staubwind, der durch die Galaxie weht, angezogen von der Schwerkraft der Sonne und ihrer Planten, in ihre Kerne gesogen und wieder ausgeatmet. Dies waren die Neun. Mit der Zeit formten sich Schleifen. Große Bögen von ausgehendem Staub fielen zurück zu ihrem Ursprung, um Kreisläufe aus Schatten zu kreieren. Die Zu- und Abnahme dieser Kreisläufe waren die ersten Gedanken der Neun. Sie verweilten in riesiger Gleichgültigkeit, ungeborene primordiale Götter. Unter ihnen gab es keine Kraft außer der Schwerkraft; keine Struktur außer der Verteilung von Masse. Ihre Herzen saßen in den Kernen der Welten, doch ihre weitreichendsten Ströme flossen bis in die Drehungen der Galaxie. Sie waren die Fontänen von Achlys, die Nacht vor dem Chaos. Doch in den Welten, in deren Herzen die Neun saßen, entstand Leben, winzige, komplizierte Bewegungen von Ökosystemen, Metabolismen und Berechnungen. Dieses Leben hinterließ Masseschatten im Wind der Neun, zupfte an ihnen wie an Harfensträngen. Von diesen Erschütterungen in der Struktur lernten die Neun enorme, resonierende Wellen zu säen, Gedanken größer als Welten. Und so erwachten die Neun. Und mit der Zeit verstanden sie, dass sie ebenso fragil wie mächtig waren; denn sollte das Leben, das ihre Gedanken gesät hat, verschwinden, würde sie das gleiche Schicksal ereilen. Sie besaßen keine Augen, um das Licht aufzufangen. Sie besaßen keine Ohren, um zu hören. Und doch richteten sie ihren Willen auf die fremdartige Welt aus Materie, um zu lernen, denn sie wussten, wenn es ihnen nicht gelang, ihre Herzen zu schützen, dass sie sterben würden. Mit dem Horror einer Erkenntnis, die so absolut ist, dass sie sie in den Wahnsinn treiben würde, wenn sie noch ein Fünkchen Verstand besäße, begreift Lavinia, wo die Neun schon immer waren. Sie sind in jedem, in jedem System, in jedem lebenden und sich bewegenden Ding. Billionen und Trillionen von schlanken Dunkelmaterietentakeln, die sich durch alle unsere Körper ziehen, um die Komplexität unserer Leben und Gedanken aufzusaugen. Wir sind alle eingeklemmte Silhouetten, aufgespießt auf den Zuckungen unendlich langer Spinnenbeine.

Die Hexe
Lore
Und dann erschien der Reisende, und mit ihm eine seltsame Hoffnung—denn das Licht des Reisenden besaß die Macht, ohne Kausalität zu erzeugen! Wenn die Neun das Licht hätten, könnten sie ihren eigenen Verstand sehen, könnten sich aus der Abhängigkeit von Materie-Leben befreien! Sie könnten Kräfte über die Schwerkraft hinaus bekommen, um sich selbst zu strukturieren, um mehr zu werden als nur Gespenster aus dunklem Staub. Sie könnten die verrückte Alienwelt unserer chemischen Realität betreten. Also wandten sie sich an diese neue Hoffnung … und wurden zweigeteilt. „Komm zu mir.“ Eine Stimme lockt Lavinia, obwohl es keine Richtung gibt und man nichts sein kann, nicht einmal Leere, sondern die Abwesenheit von allem, das leer oder voll ist. Lavinia bemerkt, ohne jegliche Emotion, dass sie nun als Struktur aus dunklem Staub existiert, ein Sandsturm, der gegen sich selbst wütet. „Komm!“, ruft die Stimme. „Ich bin Nasya. Du bist hier nicht sicher. Komm mit mir.“ Nicht sicher? Nein. Natürlich ist sie nicht sicher. Denn die Neun bestehen aus Fraktionen: eine Fraktion schickte Xûr und Orin, um die Hüter und das Licht zu studieren, um das Geheimnis von Ursache-ohne-Wirkung zu entdecken und die Quelle dieses Geheimnisses zu beschützen – die letzte Quelle, nun da die Ahamkara nicht mehr sind. Diese Fünf spielten Alchemie mit den Kokytos-Toren, verwandelten dort dunklen Staub in Energie und dann in Materie, und doch konnten sie nicht die Geheimnisse unserer verrückten Existenz lüften. Sie brauchten Botschafter. Vermittler. Die andere Fraktion wandelt auf einem anderen Pfad. Ein Pfad voller Falten und Nadeln, die durch die Raumzeit selbst gewirkt sind, existenzielle Spritzen, die neue Räume freigeben, die die Neun nach ihrem Wunsch gestalten können. Sie haben versucht, ausreichend dunklen Staub an einem Ort anzuhäufen, um ein Schwarzes Loch zu erschaffen, doch das war schwer: Wenn die dunkle Masse in der Faust der Schwerkraft kollabiert, passiert der Staub durch sich selbst und verteilt sich. Aber schwer ist nicht unmöglich. Und im Universum gibt es weitaus mehr dunkle Materie als helle. Sie werden einen Weg finden, neue Welten daraus entstehen zu lassen. Sie werden aus ihrer Abhängigkeit von Leben treten, vom Licht der Hüter, welches der fallende Schleier sowieso bald für immer auslöschen wird … Im Vorbeigehen sieht Lavinia den gesamten Ablauf der Interaktion zwischen Königin und den Neun: mehr als je jemand vermutet hat und notwendiger. Sie sieht, wie einer der Neun die Hüter für Ghauls Ankunft blind machte, und dabei alles riskierte (denn Ghaul hätte die Sonne zerstört und damit auch die Neun), nur um zu erfahren, wie man das Licht stehlen kann. Sie sieht auch, wie dieser bestraft wurde. „Komm!“ Nasyas Ruf klingt dringender. „Komm mit mir! Komm schnell, bevor—“ Etwas Finsteres und Subkutanes durchdringt die Leere unter Lavinia und verschlingt sie, saugt sie in einen Rüssel, so eng, dass sie in einen Strom einzelner Partikel zerfällt, eins nach dem anderen. Sie ist ausgelöscht … … und wiedergeboren, irgendwo, irgendwann, wieder aus Haut und Knochen, zitternd, in Angstschweiß gebadet, wimmernd wie ein Neugeborenes. Ihre Wange ist gegen einen warmen Holzboden gepresst. Da ist eine Feuerstelle mit einem lodernden Feuer, ein starker Wind draußen lässt die Flammen tanzen. Die schlau aussehende alte Frau am Tisch blickt auf. „Ah“, sagt sie. „Lavinia! Da bist du ja!“ „W—“, keucht Lavinia. „Wa—“ Sie lächelt, als ob Lavinias Verwirrung die schönste Begrüßung ist, die sie je vernommen hat. „Hab keine Angst. Du bist genau am richtigen Ort.“ „Wo … ?“ „An einem Ort, an dem du gewürdigt wirst. An dem wir uns alles zu Nutze machen können, das du gelernt hast.“ Die alte Frau gießt einen dünnen Teestrahl in eine Tasse aus Knochen. „Hab ich dir damals, als du geboren wurdest, nicht gesagt, dass das Glück auf deiner Seite ist?“